Hightech-Spiegel und sprechende Schaufenster – so ticken Läden heute

Hightech-Spiegel und sprechende Schaufenster – so ticken Läden heute


Einzelhandel
31.10.2018 Autor/en: Dr. Joseph Frechen

Einzelhändler überlassen auf ihren Flächen eigentlich nichts dem Zufall. Aber bis jetzt haben nur wenige Vorreiter echte technologische Innovationen auf ihren Flächen implementiert. Vor allem in Shoppingcentern und Highstreet-Lagen wird der Einzug neuer Technologien nicht aufzuhalten sein.

Eine der wichtigsten Herausfor­de­run­gen des Ein­zel­han­dels in den letz­ten zehn Jah­ren be­stand da­rin, un­ter­schied­li­che Trends im Be­reich La­den­ge­stal­tung und tech­no­lo­gi­sche In­no­va­ti­on mit den Kun­den­er­war­tun­gen in Ein­klang zu brin­gen. Das ist nicht einfach, denn die An­for­de­run­gen der Kunden an Kom­fort, wie sie ihn etwa vom Onlineshopping her gewohnt sind, und persönlicher Nähe (Hightouch) sind zunächst widersprüchlich. Muss es aber nicht sein, wie verschiedene Beispiele zeigen.

Passgenaue Werbung durch Gesichtserkennung: Die Technisierung der Ladenflächen ist nicht aufzuhalten

Beispiel 1: Farfetch, der erfolgreiche Innovator

Die inzwischen größte Online-Plattform für Luxusmode dient als virtueller Marktplatz für Boutiquen und Modehäuser. Ihr sta­ti­o­nä­rer Pro­to­ty­p „Store of the Future“ in London integriert seit April 2017 tech­no­lo­gi­sche Anwendungen im sta­ti­o­nä­ren Ver­kauf. „Augmented Retail“ nennt das Unternehmen seine Vision, die das physische, persönliche Erlebnis im Geschäft mit den Vorteilen der Online-Erfahrung verbindet. Gemeinsam mit anderen Start-ups hat Farfetch Module entwickelt, die in das „Store of the Future“-Konzept integriert werden können – wie Apps auf einem Smartphone, so beschreibt es die Textilwirtschaft. Das Konzept kann auch von den Marken- und Boutique-Partnern ganz oder in einzelnen Komponenten übernommen werden. Die Kosten für Hardware und Einrichtung tragen die Partner.

Wie sehen diese Module aus? Zum Beispiel ana­ly­siert Far­fetch die Be­we­gun­gen des Ver­brau­chers im sta­ti­o­nä­ren Ge­schäft. Die be­trach­te­ten Pro­duk­te werden in ei­ner in­di­vi­du­a­li­sier­ten Wunsch­lis­te erfasst. Im Anschluss kann der Kunde in smarten Spiegeln aus­ge­wähl­te Klei­dungs­stü­cke virtuell an­pro­bieren und gleich in ver­schie­de­nen Far­ben und Aus­fer­ti­gun­gen via Click be­trach­ten. Die Technologien sollen die Einzelhandelsproduktivität steigern; dazu werden Verbraucherdaten erfasst und die Interaktion zwischen Kunden und Vertriebsmitarbeitern verbessert. Die Technologie des „Store of the Future“ wurde im März 2018 im Flagship Store des Designers Thom Browne in New York eingeführt. Anscheinend überzeugt die Technologie auch Traditionsfirmen: Im Februar 2018 hat Farfetch eine globale Innovationspartnerschaft mit CHANEL angekündigt, mit der eine Reihe von digitalen Initiativen – online und offline – entwickeln werden.

Noch ist nicht ausgemacht, ob es sich bei den Applikationen um kurzfristige PR oder langfristige Umsatzsteigerung handelt. Klar ist: Bei Er­folg könn­ten die viel­fäl­ti­gen, tech­ni­schen Ap­pli­ka­ti­o­nen des Un­ter­neh­mens neue Stan­dards im Ein­zel­han­del set­zen.

Beispiels 2: adidas druckt Schuhe

Adi­das setzt vers­tärkt auf Di­gi­ta­li­sie­rung und maß­ge­schnei­der­te Pro­duk­te mit Hil­fe der 3D-Druck-Tech­no­lo­gie. Schon 2017, so schrieb die Textilwirtschaft, soll­ten 5.000 Paar Schu­he mit in­di­vi­du­a­li­sier­ten Soh­len aus dem 3D-Dru­cker stam­men; im laufenden Jahr 2018 sol­len es be­reits mehr als hun­dert­tau­send Paar sein. Der Kun­de er­hält so ein in­di­vi­du­ell für ihn her­ge­stell­tes Pro­dukt. Nach jüngs­ten Er­kennt­nis­sen von Adi­das sind die Kun­den be­reit, für die­se Schu­he we­sent­lich mehr zu be­zah­len als für in Se­ri­en­pro­duk­ti­on her­ge­stell­te Pro­jek­te. Laut Adi­das soll die Pro­duk­ti­on schon bald in die Shops ver­la­gert wer­den. In drei bis fünf Jah­ren könn­ten Kun­den ihre maß­ge­fer­tig­ten Schu­he di­rekt im La­den mit­neh­men.

Beispiel 3: Amazon und Saturn ohne Kassen

Der Elekt­ro­nikfach­händ­ler Sa­turn hat im März 2018 ein Pi­lot­pro­jekt in sei­ner Inns­bru­cker Fi­li­a­le ge­star­tet, wie die PC-Welt berichtete. In dem Sa­turn Ex­press ge­nann­ten Pi­lot­markt wird der Kas­sen­be­reich ab­ge­schafft. Die Kun­den be­zah­len statt­des­sen per App di­rekt am Re­gal. Die Kun­den scan­nen mit ei­ner für Sa­turn ent­wi­ckel­ten App den Bar­code der ge­wünsch­ten Pro­duk­te und be­zah­len dann via Kre­dit­kar­te oder PayPal. Die App kön­nen sich die Kun­den kos­ten­los auf ihr Smart­pho­ne la­den. Der Kun­de muss sich für die App ein­ma­lig re­gist­rie­ren und kann dann die ge­wünsch­ten Wa­ren ein­fach selbst mit der App scan­nen und den Be­zahl­vor­gang aus­lö­sen.

Amazon erprobt mit seiner Supermarktkette Amazon Go in den USA schon länger ein ähnliches Konzept: Kunden mit Amazon-Konto brauchen ebenfalls die entsprechende App auf ihrem Smartphone und registrieren sich damit beim Eingang. Sensoren und Kameras erfassen, welche Produkte der Kunde in seinen Einkaufskorb legt oder auch wieder herausnimmt und addieren diese automatisch.

Wer die App hat, braucht bei Amazon Go nicht an der Kasse anstehen

Was gibt es sonst noch? – Eine Übersicht

  • In „Con­nec­ted Stores“ wer­den die Be­we­gun­gen des Ver­brau­chers im sta­ti­o­nä­ren Ge­schäft ana­ly­siert. Dies passiert beispielsweise über Beleuchtungssysteme: So hat etwa Philips seine Lampen mit Sensoren ausgestattet, die Frequenzmessungen durchführen. Dadurch können weniger frequentierte Bereiche identifiziert und idealerweise besser ausgenutzt werden. Die be­trach­te­ten Pro­duk­te werden in ei­ner in­di­vi­du­a­li­sier­ten Wunsch­lis­te ge­sam­melt.
  • Im Mo­de­ein­zel­han­del kom­men in­tel­li­gen­te Um­klei­den zum Ein­satz. Dazu wer­den im In­nern der Um­klei­de­ka­bi­nen Dis­plays in­stal­liert. Da­rauf wer­den die mit­ge­nom­me­nen Ar­ti­kel angezeigt und dem Kun­den auf dem Dis­play ver­schie­de­ne Funk­ti­o­nen zur Ver­fü­gung ge­stellt, z. B. In­for­ma­ti­o­nen über die Wa­ren­ver­füg­bar­keit (Grö­ßen, Far­ben etc.), Ser­vice auf Knopf­druck, Kom­bi­na­ti­ons­mög­lich­keit mit an­de­ren Ar­ti­keln, So­ci­al-Me­dia-Funk­ti­o­nen oder Än­de­rung der Be­leuch­tung in der Ka­bi­ne.  
  • Schon heu­te setzt der sta­ti­o­nä­re Han­del in gro­ßem Um­fang kon­takt­lo­ses Be­zah­len, Self­scan­ning oder Be­a­cons ein. Be­a­cons sind klei­ne Blu­e­tooth-Sen­der, die Kun­den mit ent­spre­chen­der Smart­pho­ne-App in­ner­halb ei­nes La­dens lo­ka­li­sie­ren und ihm per­so­na­li­sier­te An­ge­bo­te zur Ver­fü­gung stel­len kön­nen. Während Selfscanning zunehmend angenommen und umgesetzt wird, wird die Beacon-Technologie nur verhalten eingesetzt und weiterverfolgt. Es gibt bereits erste Stimmen, die der Verbreitung der Beacon-Technologie im stationären Einzelhandel keine Chancen einräumen.
  • Intel­li­gen­te oder vir­tu­el­le Schau­fens­ter über­neh­men Zu­satz­in­for­ma­ti­o­nen wie Ak­ti­o­nen und An­ge­bo­te, Be­wer­bun­gen von Events und Er­eig­nis­sen oder Ein­bin­dung von Pro­dukt­bil­dern und -vi­de­os in die Schau­fens­ter­flä­che. Pas­sie­ren­de Kun­den kön­nen mit ih­rem Smart­pho­ne in In­ter­ak­ti­on tre­ten und ge­ge­be­nen­falls ei­nen Kauf tä­ti­gen, auch wenn das Ge­schäft ge­schlos­sen hat. Ins­be­son­de­re für La­den­ge­schäf­te in be­leb­ten In­nen­städ­ten er­ge­ben sich so zu­sätz­li­che Um­satz­chan­cen mit ih­ren Stamm­kun­den. Schmuck­ge­schäf­te nut­zen die­se Ap­pli­ka­ti­on als Nacht­schau­fens­ter, wäh­rend die ech­ten Stü­cke im Tre­sor la­gern.
  • Auch für bes­te­hen­de La­den­flä­che kris­tal­li­sie­ren sich neue Kon­zep­te he­raus: So geht bei­spiels­wei­se Tommy Hil­fi­ger da­von aus, künf­tig bis zu zwei Drittel der Fläche nicht mehr für den klas­si­schen Ver­kauf der Wa­ren zu nut­zen. Die Flä­che wird für Tech­no­lo­gi­en wie Or­der­points oder Flatscre­en-Wän­de ge­nutzt, auf de­nen per­ma­nent Wer­be­clips und Posts ge­zeigt wer­den, so­wie für eine Lounge und Café.­ Die Nut­zun­gen und Ak­ti­vi­tä­ten ver­men­gen sich zu­neh­mend; die La­den­flä­che wird "Mul­ti-Use-fä­hig".

Tech­ni­sie­rung der La­den­flä­chen wird weiter zunehmen

Viele dieser Ent­wick­lun­gen werden be­reits heu­te im sta­ti­o­nä­ren Ein­zel­han­del eingesetzt. Neue Tech­no­lo­gi­en be­fin­den sich in Vor­be­rei­tung, um Kun­den beim Be­tre­ten des La­dens so­fort zu er­ken­nen und so per­sön­lich zu be­die­nen, wie sie es aus ih­rem On­li­ne-Kauf­pro­zess ken­nen und schät­zen. Laufend kommen neue Entwicklungen auf den Markt, und darin liegt auch das Problem: Auf welche Technologie soll der stationäre Einzelhandel setzen? Was ist erfolgreich und wird sich durchsetzen? Und welche Technologien sind verzichtbar, da sie weder für den Einzelhändler noch Kunden einen Mehrwert bieten?

Fazit: Durch die tech­no­lo­gi­sche Un­ter­stüt­zung wach­sen der sta­ti­o­nä­re La­den und der On­li­nes­to­re zu ei­ner Ein­heit zu­sam­men. Ein­zel­han­dels­un­ter­neh­men, die noch kei­nen ei­ge­nen On­li­nes­to­re füh­ren, dürf­ten so eben­so ins Hin­ter­tref­fen ge­ra­ten wie Onlinestores, de­nen ihr sta­ti­o­nä­res Stand­bein fehlt. Da­her ist in den nächs­ten Jah­ren von ei­ner er­höh­ten Tech­ni­sie­rung der sta­ti­o­nä­ren Ein­zel­han­dels­flä­che aus­zu­ge­hen, die ne­ben den Ge­schäf­ten in Shop­pingcen­tern ins­be­son­de­re Ein­zel­händler in Highstreet-La­gen er­fas­sen wird. Zum an­de­ren wird eine vers­tärk­te Ex­pan­si­on der Pure-In­ter­net-Play­er er­war­tet – einige haben ja bereits stationäre Läden eröffnet, wie mymuesli oder Mister Spex. Durch ihre räum­li­che Prä­senz erhöhen sie die Nähe zu ih­ren Kun­den und können eine vollstän­di­ge "Cus­to­mer Jour­ney" (Kun­den­ein­kaufs­bum­mel) ab­bil­den.

Die technologische Ausstattung der stationären Geschäfte führt jedoch auch zu einem Anstieg der Investitionskosten je Laden. Die mögliche Folge: eine verstärkte Optimierung des bestehenden Ladennetzes, um bei reduzierter Ladenzahl einen hohen technologischen Standard durchsetzen zu können. Flagshipstores der Markenhersteller und internationale Filialisten dürften die Schrittmacher dieser Entwicklung werden. Erste Anzeichen dieser Entwicklung sind derzeit bei Zara und H&M zu beobachten, die sich in den Hightstreets deutscher Großstädte und Metropolen bereits auf eine geringere Anzahl, dafür aber flächengrößere Ladengeschäfte konzentrieren.   

 

Ansprechpartner: Dr. Joseph Frechen, Leiter der Niederlassung Hamburg bei bulwiengesa, frechen [at] bulwiengesa.de